Entdeckung der Langsamkeit

Wir leben in einer sehr schnellen Zeit mit  hoher Reizdichte. Mobilität und Erreichbarkeit durch neue Medien, Technik haben sich enorm ausgeweitet und viele Möglichkeiten mit sich gebracht. Jedoch hat alle Entwicklung auch immer Schattenseiten. Manche blühen in dieser Welt voller Möglichkeiten auf und andere kommen wegen Reizübeflutung und Dauerüberforderung massiv an ihre Grenzen, brennen im wahrsten Sinne des Wortes aus.

Immer öfter beobachte ich auch das Phänomen der Reizjunkies. Menschen die diese Geschwindigkeit nur halten können, wenn sie sich dauerhaft mit Reizen versorgen. Da fordern sie sich nicht nur im beruflichen Leben enorm, sondern die Freizeit wird in gleichhoher Taktung gefüllt. Wenn diese Menschen durch Krankheit zur Ruhe genötigt werden, bekommen sie im wahrsten Sinne des Wortes „Entzugserscheinungen“. Sie halten es mit sich selbst und ohne die gewisse Dosis an Reizen nicht aus, das Sein wird in dieser Phase unerträglich, zur Qual.  Ist das wirklich das Leben, das sie wollen?

Ich weiß es nicht. Für mich ist das auf jeden Fall nicht anstrebenswert, auch wenn die enorme Leistungfähigkeit bestimmt wie ein Kick sein kann – ein Leben auf der Überholspur, ein „Mir gehört die Welt-Gefühl“ mit sich bringt.

Ich denke, dass es durchaus Menschen gibt, die mit einer enormen Tatkraft ausgestattet sind und ihr Leben in diesem Tempo ausgeglichen und glücklich leben können. Es gibt aber auch die Menschen, die meinen, sie müssten da Schritt halten und dafür nicht geschaffen sind und es gibt Menschen, die sich erst in der Langsamkeit voll entfalten können.  Ich möchte  keine Wertung reinbringen, es gibt einfach vollkommen unterschiedliche Grundkonstitutionen. Ich möchte nur zum Nachdenken anregen, zum Innehalten und mal ehrlich hingucken, was für ein Mensch du selbst bist und ob du deinem Tempo und deinen Gaben entsprechend lebst.

Ich gehöre zu den „Wechselwesen“, mal bin ich schnell unterwegs, mal ganz langsam und so kenne ich die Vor- und Nachtteile beider Geschwindigkeiten. Zunehmend verwurzele ich mich mehr in der Langsamkeit, denn ich habe in ihr – für mich – deutlich schönere und nachhaltigere Aspekte gefunden. Diese möchte ich gerne teilen und auch anderen erfahrbar machen.

Dazu ein kleiner Erfahrungsbericht von der letzten Yogawanderung. Wir hatten gerade an einem schönen Ort im Wald jede/r 10 Minuten der Stille, Meditation verbracht, als ich die TeilnehmerInnen in einen Sitzkreis bat, um eine Sinnesübung zu machen. Jede/r bekam bei geschlossenen Augen ein „Waldpflänzchen“ in die offene Handfläche gelegt und sollte dieses zuerst mit Zeit und  Ruhe ertasten, erkunden, dann versuchen den Geruch mit der Nase einzufangen und schließlich – diejenigen, die dafür offen waren,  das Pflänzchen in den Mund stecken und schmecken.

Ich hatte Sauerklee gewählt und erst, als ich selbst die Augen geschlossen hatte und ins Tasten ging, gemerkt, wie zart und filigran diese Pflanze mit dem doch so intensiven Geschmack ist.

Als ich die TeilnehmerInnen nach der Übung fragte, wie es ihnen ergangen sei, sprudelte es aus einer Teilnehmerin geradezu heraus. Sie sei sich vorgekommen, als ob sie vollkommen klobige Hände hätte, ohne jegliches Gefühl – zustimmendes Nicken von den anderen – und das, obwohl sie doch mit ihren Händen gefühlvoll arbeite. Das hätte sie zuerst entsetzt und sie wollte schon vor Frust aufgeben. Dann habe sie sich aber entschieden weiter zu tasten, sich weiter einzulassen und langsam, ganz langsam, sei es ihr gelungen, mehr und mehr von der Pflanze wahrzunehmen und sie habe sie dann sogar erkannt. Normal hätte sie gar nicht so viel Geduld, aber die Erfahrung habe sie gelehrt, dass es sich lohnt sich mit Zeit und Ruhe einzulassen…

In der Langsamkeit können wir anders hinfühlen, hinsehen, hinhören und manche Dinge überhaupt erst wahrnehmen, die uns im „Alltagstempo“ verborgen bleiben. In der Langsamkeit können sich viele Facetten von Wahrnehmung erst richtig „entfalten“ oder „entwickeln“.

Übertragen auf das Yoga:

Lerne ich eine neue Bewegung, werde ich am Anfang noch angestrengt üben, weil ich erstmal ganz viel Neues zusammen bringen muss. (Bewegung, Atmung, innere Haltung, Differenzierung, Entspannung…) erst durch Dranbleiben und Geduld, durch immer genaueres und präziseres Wahrnehmen, erschließt sich mir die Übung nach und nach in all ihren Facetten.

Und wenn ich  langsam übe – gekoppelt an bewusstes, ruhiges Atmen –  hat der Körper Zeit sich in die Übung zu entspannen, hat der Geist Zeit zur Ruhe zu kommen und sich zu konzentrieren.  Im schönsten Falle führt das in ein Glücksgefühl, da alle Ebenen (Körper, Geist und Seele) in Einklang finden und wir ganz im Moment ankommen.

Es lohnt sich, mit Geduld und Langsamkeit im Handgepäck, auf Entdeckungsreise zu gehen!

 

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