Methode E oder wie die Angst sich öffnete
Cleopatra, Cleopatra! Da lief sie durch`s Gebüsch. Alle Klamotten hatte sie von sich geschmissen – all die Zierstücke, die sie anscheinend zu etwas Besonderem machten – und fühlte sich endlich frei.
Mit jedem Schritt öffneten sich ihre Sinne. Sie wurde eins mit sich und der Natur – ohne Vorstellung, wo und wie es jetzt weiter gehen würde.
Sie war sich dessen bewusst, dass ihr Handeln nicht legal war, dass sie die Grenzen der Gesellschaft, in der sie lebte, missachtet und überschritten hatte und sich jetzt auf neuem, unbekannten Terrain befand. Dass sie ihre gesellschaftliche Identität – das, was sie bisher war – mit ihren Kleidern abgestreift hatte. Sie hatte alles verlassen, was Halt, Sicherheit und Orientierung gab und nun stand sie da.
Nackt, alleine, getrennt.
Gleichsam fühlte sie sich so verbunden wie nie. Und Jetzt? Vor oder zurück?
Die Sonne ging unter und Cleopatra tauchte ein in die Dunkelheit. Angst bemächtigte sich ihrer. Die Sinne gehorchten ihr nicht mehr. Igitt, was war das? Sie erstarrte, konnte sich vor lauter Angst nicht mehr rühren. Überall schienen Gefahren. Gleich einer Decke wickelte die Angst sie ein und trennte sie von allem.
Gefangen in sich selbst.
Vor lauter Erschöpfung durch die Daueranspannung, welche die Angst dem Körper abverlangte, glitt sie, nach gefühlten Stunden, auf den Boden und der Schlaf verdrängte die Angst.
Die Angst wollte sich aber nicht so schnell verdrängen lassen und versuchte sich – auf dem einzig möglichen Weg – gegen den Schlaf durchzusetzen: Indem sie sich in die Träume schlich. Sie gierte hungrig nach Nahrung, machte sich auf die Suche nach leichter Beute, durchkämmte Cleopatras Unterbewusstsein und nutzte alle Schwachstellen und Unsicherheiten, um sich wieder breit zu machen.
Doch Cleopatra befand sich im Umbruch. Die Erfahrung der Verbundenheit fernab von allem, hatte sich schon in ihr verankert und bat der Angst Paroli.
Sie erlebte den Kampf in ihrem Unterbewusstsein körperlich. Warf sich im Schlaf hin und her, wechselte zwischen Schweißausbrüchen und Schüttelfrost. Der Körper schmerzte und juckte, stöhnte und schrie – erholte und entspannte sich im Wechsel. Sie hatte keinerlei Kontrolle mehr über Geist und Körper, wurde zum Spielball…
Am nächsten Morgen wurde sie von wunderschönem Vogelgesang und dem sanften Streicheln des Windes geweckt. Wie durch ein Wunder fühlte sich ihr Körper wach, kräftig und sehr sinnlich an. Auch der Kopf war frei, offen und klar. Sie spürte Leichtigkeit und fühlte sich innig verbunden mit der Welt. Ein Lächeln breitete sich in ihr aus.
Langsam stand sie auf und machte sich staunend auf den Weg. Alles um sie herum freudig aufnehmend, lief sie zurück zu ihren Klamotten und angelte sie sich vom Boden. Streifte ein Kleidungsstück nach dem anderen über. Fühlte sich leidlich wohl darin, aber erkannte die Kleidung als Notwendigkeit, damit die Menschen der anderen Welt nicht vor ihr erschreckten.
Langsam, ihre Sinne wachhaltend, ging Cleopatra zurück in die Welt, die sie verlassen hatte. Sie kehrte gewandelt zurück, mit einer starken Intuition für richtige Zeitpunkte. Fühlte sie diese, nahm sie die Menschen mit und machte sie auf die Grenze zur anderen Welt aufmerksam.
Nicht mehr, nicht weniger.
Sie selbst brauchte es nach einiger Zeit nicht mehr die Welten zu wechseln, da sich die Grenze in ihr auflöste, es irgendwann keine Trennung mehr gab.
Nachdem Cleopatra im hohen Alter ihren Körper verließ, machten sich einige Wissenschaftler, denen Cleopatras Tun nicht verborgen geblieben war, über ihr Wirken her – versuchten es zu analysieren, kategorisieren, formalen Kriterien zu unterwerfen. Obwohl sie erkannten, dass dies in der Komplexität nicht möglich war, entwickelten sie aus ihren Untersuchungssergebnissen eine Methode des Weltenwechsels. Sie legten dabei klar fest, wie man „richtig“ vorgehen müsse, wann es gelungen sei und nannten diese Methode „E“. Sie bildeten Trainer aus, legten Richtlinien fest, kontrollierten die Umsetzung und Auswirkungen.
Sie merkten nicht, dass sie die andere Welt noch nie betreten hatten, sondern nur einer Vorstellung, einer Kopie aufsaßen, die ihnen ihre Angst diktierte. Denn die Angst ist geschickt und kennt, wie gesagt, jegliche Schwachstellen. „Vorallem das Sicherheitsdenken, das Kontrollbedürfnis der Menschen ist eine ergiebige Nahrungsquelle!“ lachte die Angst vor sich hin und war sicher, dass ihre Existenz nur in wenigen Fällen wirklich bedroht war.
Cleopatra war eine Ausnahme gewesen, sie hatte sich ihr entzogen. Aber irgendwie hatte sie diese Menschenfrau auch sehr geschätzt. Sie waren zum Schluss fast befreundet, da sie sich so oft bei anderen Menschen begegneten. Auch wenn Cleopatra ja eigentlich eine ernstliche Gefahr für die Angst war, war sie doch die einzige, die ihr offen begegnete und wirklich interessiert war an ihrem Tun, ihrer Wendigkeit, ihren Strategien. Cleopatra trat ihr wertschätzend gegenüber, das tat der Angst gut und auch sie kam mal zur Ruhe – eine für sie ganz ungewohnter Qualität.
Vielleicht würde die Angst ja bald ein neues Gegenüber finden, bei dem sie sich mal ausruhen kann, einfach sein kann, ohne Bedenken verbannt, bekämpft, abgelehnt zu werden.
Sie hielt auf jeden Fall die Augen danach offen!